Ehrengarden sind ein Phänomen. In den Jahren zwischen den
beiden Weltkriegen entstanden sie überall dort, wo sich aktive
Schützenvereine ein besonderes Aushängeschild schaffen wollten. Drei
Hauptgründe gibt es für die Entstehung solcher Garden: eine schmucke und gut
ausgestattete Ehrengarde mit jungen Männern bereicherte den Umzug und bildete
einen Blickfang bei den Festen. Daneben ließ sich auf diese Weise die Jugend
hervorragend an das Schützenwesen heranführen und in das Vereinsleben
integrieren. Schon die erste Satzung der Sassenberger Ehrengarde schrieb fest,
daß die Garde in den Bürgerschützen-Verein eingebunden war. Bis heute muß
der von den Gardisten gewählte Kommandeur vom Vorstand des
Bürgerschützen-Vereins bestätigt werden. Der dritte Grund - und eher
unausgesprochen, vielleicht sogar unterbewußt - ist das Fehlen von Zackigkeit
und Paradeauftritten in den Zeiten verordneter Militär-Abstinenz zwischen den
Weltkriegen. Wenngleich preußische Primärtugenden weiterhin hoch im Kurs
standen - die bislang gewohnte Ordnung und Ausbildung der jungen Männer war
durch die Versailler Verträge dahin.
Weniger die jungen Männer selbst, als die Altvorderen sorgten
dafür, daß über das Vehikel Ehrengarde exakt das Einzug hielt, was viele
vermißten: Schießübungen, soldatische Disziplin und ein uniformes Bild vor
allem bei den Märschen. Bewußt oder unbewußt - mit der Ehrengarde sickerten
preußische Tugenden in den Schützenverein. Die Schützen selbst traten
lediglich in schwarzem Anzug und mit Schützenhut auf. Die Ehrengarde hingegen
legte von Beginn an großen Wert auf eine akkurate und korrekte Erscheinung;
Uniformen für alle Mitglieder zu beschaffen war daher in den Anfangstagen
eine Hauptaufgabe. Und als die Ausstattung noch nicht einheitlich war, sorgten
Brustschnüre, Achselklappen und Hutkordeln für ein schmuckes
Erscheinungsbild.
Die erste Anregung für die Gründung einer Ehrengarde in
Sassenberg ist für die Generalversammlung 1921 des Bürgerschützenvereins
dokumentiert. Das geht aus der Jubiläumsfestschrift des Vereins zum
100-jährigen Bestehen im Jahr 1939 hervor. Doch damit erschöpfen sich die
Quellen über die Gründung bereits Zeitzeugen leben nicht mehr, Dokumente mit
Einzelheiten über die Entstehung oder die damit verfolgten Ziele gibt es
weder im Archiv des Bürgerschützen-Vereins noch der Ehrengarde. Selbst das
Archiv des damaligen Warendorfer Tageblattes, verrät nichts über die
konkreten Absichten oder den Versammlungsort. Auch das Stadtarchiv und das
Kassenbuch der Ehrengarde - ansonsten auch für diese Jubiläumsfestschrift
ein oft hilf- und aufschlußreiches Informationsmittel - geben darüber keine
Hintergründe preis.
Der erste Eintrag ins Kassenbuch der Ehrengarde stammt erst
aus dem Jahr 1924. Was im wesentlichen daran liegt, daß es in den ersten drei
Jahren weder Kassierer noch Schriftführer gab. Erst 1924 besetzten die
Ehrengardisten diese Ämter. Zwar sagt die Festschrift 1939 der
Bürgerschützen darüber: ". . . Melchior Lackamp, der rückwirkend vom
Gründungsjahr bis zu seinem Austritt im Jahre 1931 das Protokoll der
Ehrerigarde in mustergültiger Form führte und gleichzeitig die Kasse
verwaltete." Doch die Quelle für diesen Eintrag ist 1996 unauffindbar.
Das einzige Dokument der ersten Tage ist eben das Kassenbuch.
Dafür darf die "mustergültige Form" getrost gelten - selbst wenn
die Sütterlin-Schrift heute jungen Menschen oft rätselhaft erscheint.
Allerdings geht daraus für die ersten Jahre inhaltlich kaum mehr hervor, als
etwa die Höhe der Mitgliedsbeiträge (eine Mark pro Gardist und Jahr).
Gleiches gilt für allgemeine Werke über das Schützenwesen dieser Zeit.
"Das westfälische Schützenwesen des 19. und 20. Jahrhunderts" aus
dem Verlag Aschendorf zum Beispiel schweigt zum Thema Ehrengarde völlig, und
auch Nachforschungen etwa in der Enzyklopädie des Bertelsmann-Verlages
bringen keinen Aufschluß über die Entstehung der Ehrengarden in Westfalen.
Zurück zur Gründung der Sassenberger Garde 1921. Die erste
Satzung legte fest, daß nur Schützenbrüder zwischen 19 und 30 Jahren
der Ehrengarde beitreten durften, die zudem - was ein umgeschriebenes Gesetz
war - ledig sein sollten. 25 Gardisten zählte der Gründungsjahrgang. Zum
Kommandeur wurde Theodor Maas gewählt. Aus der Festzeitschrift 1939, als
Zeitzeugen noch aus eigener Erinnerung berichteten, geht hervor, daß die
ersten Jahre von Improvisation geprägt waren. Zu Beginn fehlten sogar eigene
Uniformen. Der Warendorfer Schützenkamerad Böckenholt half den Sassenbergern
aus dieser mißlichen Lage: er lieh ihnen 25 Uniformen. Schneidermeister
Heinrich Ahmann aus Sassenberg sorgte anschließend für die immer weiter
komplettierte - Ausstattung. Er änderte Hosen, bügelte Uniformen und
reparierte, wo immer es nötig war. Das half dem Kassierer ungemein -
Eintragungen für derlei Dienste sind im Kassenbuch jedenfalls nicht vermerkt.
Das Archiv der Ehrengarde dokumentiert, daß ab 1924 nach
und nach eigene Uniformen angeschafft wurden. Auf die Vervollständigung der
Ausstattung wurde wegen der zuvor beschriebenen Zielrichtung von Ehrengarden
allergrößter Wert gelegt. Da die Mitgliedsbeiträge dazu jedoch nicht
ausreichten, wurden Preisschießen zur Finanzierung veranstaltet. So kamen zu
den Unifomen rasch Brustschnüre, Achselklappen, weiße Hosen und Hutkordeln
hinzu. Nach und nach wurde die Organisation immer fester.
Die erste offizielle Satzung (siehe nebenstehende Abschrift),
legten die Gardisten dem Vorstand des Bürgerschützen-Vereins 1925 vor.
So dürftig schriftliche Dokumente aus den Gründungsjahren
sind - Fotos gibt es reichlich und teilweise in bestechender Qualität. Wer
diese Bilder neben aktuelle Fotos legt, der erkennt bei allem Zeitunterschied
durchaus Ähnlichkeiten. So ist die Marschordnung mit dem Kommandeur an der
Spitze natürlich identisch; in Haltung, Formation und selbst im umformen
Aussehen unterscheiden sich die Gardisten von einst und heute kaum. Auch zum
Ende des 20. Jahrhunderts präsentieren die Ehrengardisten stolz Standarte und
den Präsentiervogel, tragen sie Degen und Gewehr - nicht anders als in den
Gründungsjahren.
75 Jahre Ehrengarde - das ist nicht nur ein
Dreivierteljahrundert Schützentradition und Ausbildung der Jungschützen. Das
ist in vielen Sassenberger Familien mittlerweile gute Familientradition. Ein
treffliches Beispiel ist die Familie Kunstleve. Heinrich Kunstleve zählte
1921 zu den Gründungsmitgliedern und fungierte damals gleich als
Standarten-Offizier. Die Begeisterung für die Ehrengarde findet sich auch
heute noch bei seinen Enkeln wieder: mit Jürgen, Alfred und Bernhard
Kunstleve sind im Jubiläumsjahr gleich drei Familienmitglieder in der
Ehrengarde.
Auch wenn diese Häufung einzigartig ist; daran läßt sich
erkennen, daß die Ehrengarde von Beginn an eine ganz besondere Funktion im
Bürgerschützen-Verein und im gesellschaftlichen Leben der Stadt hatte. Sie
stand und steht für Bodenständigkeit, für Kameradschaft und als Einstieg
ins Schützenleben. Hier üben junge Schützenbrüder Marschtechniken,
Präsentation und Auftreten; hinzu kommt die Schießausbildung. Aber zumeist
ist der Eintritt in die Ehrengarde für die jungen Männer eine
Selbstverständlichkeit - weil der Vater schon dabei war, weil die Ehrengarde
zu Sassenberg gehört wie die Hessel und weil zu fast allen Zeiten das
Vereinsleben der Garde eine große Verlockung ausübte.
Natürlich spiegeln die Gesichter der Gardisten die andere
Zeit wieder - doch die Beweggründe, der Garde beizutreten, dürften sich in
all den Jahren nicht verändert haben: Die Verbundenheit mit dem
Schützenverein und der Sassenberger Heimat fallen bei den Mitgliedern heute,
kurz vor der Jahrtausendwende, nicht anders aus, als bei der Gründung 1921.
Damals wie heute bilden sie als Ehrengardisten das Aushängeschild des Vereins,
zuweilen sogar für die Stadt. Sie nehmen bestimmte Aufgaben im Vereinsleben
wahr, aber auch gesellschaftliche Verpflichtungen wie beispielsweise beim
Altentag, bei Sammlungen für Kindergärten oder beim Allerheiligenmarkt. Die
Ehrengarde versteht sich nicht nur als eigenständiger Verein, sondern
durchaus als Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt. Und ihre
Mitglieder sind sich einig bei dem Bekenntnis: Ehrengardist sein, das heißt
Schützenbruder sein - aus vollem Herzen.